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Als die Herbstferien noch Kartoffelferien waren – mit Kartoffeln stoppeln und „einkellern“
Wichtigster Bestandteil des Kampfes ums Überleben nach dem Zweiten Weltkrieg war die Nahrungsbeschaffung. Nach der "offiziellen" Kartoffel-Ernte und der Feld-Freigabe durch den Flurschutz durften endlich die Städter auf die bereits abgeernteten Kartoffelfelder, um noch die letzten lebenswichtigen Kartoffeln aus dem Erdreich zu hacken...
Lotzdorf Kartoffelferien - Kartoffelernt
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Veröffentlicht in "die Radeberger"   Nr. 40  v. 7.10.2016  und

                                                        Nr. 41 v. 14.10.2016                               


Als die Herbstferien noch Kartoffelferien waren...

 

Ich kann mir vorstellen, dass manch ein Leser denken könnte: „Meine Güte, kommen denn manche Leute nie von vergangenen Zeiten los, das ist doch alles überholt und der Schnee von gestern“. Die Frage steht jedoch immer wieder: Ist das so? Wirklich?

 

Ich denke: Nein, keinesfalls. Und es kann keinem schaden, sich hin und wieder zu erinnern, denn Geschichte und bestimmte Abfolgen wiederholen sich bekanntlich immer wieder. Daran musste ich denken, als uns vor wenigen Wochen die Medien und Nachrichtenagenturen mit der Bekanntgabe des neuen Zivilschutzkonzeptes der Bundesregierung überraschten, und dem darin enthaltenen Aufruf, dass wir uns zu unserer eigenen Sicherheit eine „Notversorgung“ für einige Wochen mit haltbaren Nahrungsmitteln und Trinkwasser vornehmen sollten. Diese empfohlenen Maßnahmen ließen mich nun doch zusammenzucken, kannte ich doch noch bis vor kurzem von meinen Vorfahren ihre nie enden wollende, von uns manchmal aus Unwissenheit und Oberflächlichkeit auch belächelte Vorsicht, immer haltbare Nahrungsmittel als eine Form der Vorratswirtschaft im Haus zu haben. Die Angst vor „schlechten Zeiten“ saß bei diesen Generationen noch tief verwurzelt, denn sie hatten die Not nach zwei Weltkriegen erlebt und wussten aus Erfahrung, wie schnell sich ein angeblich gesichertes und sorgloses Leben in das Gegenteil verwandeln kann. Sie erlebten die Lebensmittelknappheit mit Zuteilungen, die so minimal bemessen waren, um gerade noch am Leben bleiben zu können, kaum Zuteilungen von Fett, Milch, Zucker und Fleisch, keine Medikamente, außerdem noch Stromabschaltungen und mangelnde Kohleversorgung, um nur einiges zu nennen. All das hatte ihre Sicht auf das Leben nachhaltig geprägt.

 

Bei Recherchen im Radeberger Stadtarchiv fanden sich Protokolle der Stadtratssitzungen vom Oktober 1945, in denen festgehalten wurde: „(…) dass einheitliche Verpflegungssätze über ganz Sachsen von der Landesverwaltung herausgegeben werden. Bemerkenswert darin ist, dass für Nichtarbeitende kein Fleisch und kein Fett verausgabt werden darf. Der Kreis der Nichtarbeitenden setzt sich zusammen aus den Hausfrauen, Rentnern, Kranken und ähnlichen Bevölkerungskreisen. Es bedeutet faktisch, dass alle Kranken, die bisher (…) Zulagen erhielten, nunmehr zum Sterben verurteilt seien, eine Aktion, wie sie bereits bei den Nazis durchgeführt wurde“. Die Stadtverwaltung Radeberg reichte darauf hin Protestschreiben bei der Landesverwaltung und dem Landrat ein.

 

Welche Tragödien sich mit der Durchsetzung dieser Anweisungen der Landesregierung Sachsen, als Teil der Sowjetischen Besatzungszone, wirklich abgespielt haben, kann man nur erahnen. Ein Beispiel dafür ist auch der Protokollvermerk: „(…) nach längerer Aussprache regt der Rat an, dem ehemaligen Ersten Bürgermeister Otto Uhlig, angesichts seiner Mittellosigkeit und angesichts seiner Arbeitsunfähigkeit, von Ratswegen zur Wiedergutmachung des an ihm von den Nazis begangenen Unrechts zu Einkünften zu verhelfen, auf die er einen wohlerworbenen Anspruch hat.“ Karl Otto Uhlig (1872-1950), ehemaliger sächsischer Innenminister, stellvertretender Ministerpräsident, Erster Bürgermeister Radebergs von 1920 - 1933, stand mit 74 Jahren vor dem Nichts… (1948 wurde er zum Ehrenbürger der Stadt Radeberg ernannt).

 

Die Devise war: „Erst Arbeiten, dann Essen“, was die logische Schlussfolgerung zum Inhalt hatte: Wer nicht arbeitet, muss auch nicht essen. Die für diese Bevölkerungsgruppe festgelegte Lebensmittelkarte Kategorie 5 wurde auch „Friedhofskarte“ genannt. Das alles hatten die älteren Generationen erlebt, wir sogenannten Nachkriegskinder nicht mehr in dieser Härte. Damit hängt es auch sicherlich zusammen, dass wir als die Generationen, die in der jetzigen Wohlstandsgesellschaft leben bzw. hineingeboren wurden, den natürlichen Schutzfaktor nicht mehr besitzen, um Gefahren rechtzeitig zu erkennen. Damals hatte man das noch, man war „durch die Schule des Lebens gegangen“, wie man das so schön nannte.

 

Lotzdorf, an der Hohle (Kühnheide-Weg)  – Warten auf die Feld-Freigabe    (Foto ca. 1949: Sammlg. A. Wünsche)
Lotzdorf, an der Hohle (Kühnheide-Weg) – Warten auf die Feld-Freigabe (Foto ca. 1949: Sammlg. A. Wünsche)

Um nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt überleben zu können, spielte die Kartoffel eine große Rolle. Sie war Hauptnahrungsmittel, teilweise über längere Zeiträume auch fast die einzige Nahrungsquelle. Selbst Säuglinge und Kleinstkinder wurden mangels Milch mit sogenannter „Zotel-Suppe“ oder „Huddel-Suppe“ in der Milchflasche über den ärgsten Hunger gebracht, einer dünnen Wassersuppe aus geriebenen Kartoffeln. Die große Bedeutung der Kartoffel für die Ernährung hatte schon der Preußenkönig Friedrich II. (Friedrich d. Große, 1712-1786) erkannt, der sie in der großen Hungersnot des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) in Preußen für seine Untertanen einführen ließ. Er scheiterte bei dem Versuch, Kartoffeln anbauen zu lassen und zu verbreiten, an seinen märkischen Bauern, die als ausgemachte Sturköpfe den Gehorsam verweigerten. Selbst Prügel führten keinen Sinneswandel herbei. Sie bauten weiterhin das von den Witterungseinflüssen stark abhängige und auch viel weniger sättigende Getreide an, dessen Erträge weit hinter denen der Kartoffel lagen, ebenso war der Nährwert der Kartoffel viel höher, auch die Zubereitung einfacher. Friedrich der Große war ein kluger Regent, er griff zu einer List. Er ließ Kartoffelfelder anlegen, zäunte sie als „wertvolles Gut“ ein und umstellte sie mit Wachsoldaten. Da wurde selbst den argwöhnisch beobachtenden märkischen Bauern bald klar, dass es sich hier nur um eine außergewöhnlich wertvolle Pflanze handeln konnte, die der König bewachen ließ - der Bann war gebrochen, und die Kartoffel trat nach und nach ihren Siegeszug an - bis heute. Unsere Vorfahren wussten immer - wer Kartoffeln im Haus hatte, musste zumindest nicht verhungern…

 

Nach dem Kriegsende 1945 und der einsetzenden großen Notzeit wartete jeder sehnsüchtig auf die Zeit der Feldernte, um auf den abgeernteten Feldern der Bauern noch einige Reste an Ernterückständen zu finden. Das war aber erst nach der Ernte erlaubt (Feldfreigabe). Für die Sicherung der Ernte vor Diebstahl waren Flurschützer (Ordnungskräfte) eingesetzt worden, die die Felder bewachten, auch in der Nacht. Da es trotz alledem immer wieder zu verzweifelten Diebstählen kam, wurden die Feldwege, die von Verkehrsstraßen aus erreicht werden konnten, gesperrt. So auch der Lotzdorfer Kirchsteig, der auch von der Radeberger damaligen Friedrichstraße aus begehbar war. Die Feldbesitzer machten daraufhin sogleich Nägel mit Köpfen und pflügten diesen Weg widerrechtlich um - jeder Quadratmeter Boden zählte für den Ertrag. Im Spätsommer wurden von der Bevölkerung auf den abgeernteten Getreidefeldern mühselig Ähren gelesen. Die Körner wurden in der Wohnung getrocknet, in einer eigenen kleinen Schrotmühle zerkleinert und kamen dann als wässrige Mehlsuppe auf den Tisch oder als schrecklich schmeckende, grau-grüne dicke Schrot-Wasserpampe, bzw. auch als Gerstenbrei, der verschlungen wurde, um den ärgsten Hunger zu stillen.

 

Lotzdorf, an der Hohle (Kühnheide-Weg): gebeugte Rücken beim „Stoppeln“  für ein paar Kartoffeln…    (Foto ca. 1949: Sammlg. A. Wünsche)
Lotzdorf, an der Hohle (Kühnheide-Weg): gebeugte Rücken beim „Stoppeln“ für ein paar Kartoffeln… (Foto ca. 1949: Sammlg. A. Wünsche)

Aber der Höhepunkt der jährlichen Nahrungsbeschaffung in der Nachkriegszeit, um den nächsten Winter überhaupt überstehen zu können, war mit der Beschaffung der Kartoffeln verbunden. Wer nur irgendwie konnte, musste sich in der Zeit der Kartoffelernte seinen Urlaub nehmen, um mit dem „Stoppeln“, also Hacken und Nachlesen auf den bereits abgeernteten Kartoffeläckern, noch zusätzlich etwas Essbares zu ergattern. Auch die Kinder waren in diese Arbeiten voll mit einbezogen und mussten die Familien ganz selbstverständlich mit unterstützen, selbst auch kleinere Kinder, die mit sogenannten Kinderhacken ausgestattet waren. Gemeinsam ging man auf den Acker, denn Not hatte schon immer eigene Gesetze. Anfang Oktober war Schulfrei, später nannte man es „die Kartoffelferien“. Sie mussten zur Lese von Kartoffeln voll genutzt werden. Auf die staatliche Absicherung dieses Grundnahrungsmittels, in Form einer Kartoffelzuteilung auf Markenabschnitten, konnte man sich nie verlassen. Eine kontinuierliche Belieferung war ungewiss, und auch die Zuteilungsmenge reichte nicht aus. Also versuchte jeder, seine Vorsorge selbst in die Hand zu nehmen. Diese absolute Not hatte damals die Menschen zusammengeschweißt. Es gab ein unglaubliches Informationssystem untereinander. Die Kunde, wo in den nächsten Tagen, an welchem Ort und bei welchem Bauern ein Feld zum Stoppeln frei werden sollte, verbreitete sich von Einem zum Anderen. Dieses Wissen beschränkte sich nicht nur auf die nähere Umgebung, wie die Lotzdorfer Flur, Großerkmannsdorf, Ullersdorf, Wachau, Lichtenberg, Seifersdorf, Kleinwolmsdorf und Wallroda, sondern man wusste sogar über die Freigabe der Felder in der Umgebung des Keulenberges Bescheid. Auch dorthin lief man „per Beene“. Vielmehr man musste laufen, denn die Fahrräder waren, ebenso wie die Rundfunkempfänger, 1945 von der Besatzungsmacht konfisziert worden.

 

Die Kleindittmannsdorfer Fluren, Großnaundorf, Höckendorf wurden von den hungernden Städtern regelrecht belagert und heimgesucht. Früh am Morgen, zumeist noch in der Dunkelheit, zogen die Scharen der Städter ihrem Ziel, dem Kartoffelfeld, entgegen. Zeitiges Kommen war wichtig, um am Feldrain eine gute Ausgangsposition für den Sturm auf die Furchen zu haben. Wenn der Bauer im Dämmerlicht mit seinem Fuhrwerk und seinen Helfern auf seinem Feld ankam, um mit der Kartoffelernte zu beginnen, saßen zumeist die Städter schon dichtgedrängt rund um das Feld. Sie mussten alle warten, bis der Bauer seine Ernte eingebracht hatte, das konnte dauern, manchmal bis kurz vor Mittag, denn er sammelte ja ebenfalls noch gründlich seine letzten sichtbaren Knollen ein. Erst wenn das Feld von ihm per Zuruf an die Wartenden freigegeben wurde, durften sie mit dem Stoppeln beginnen. Nun rannten alle, wie auf einen Startschuss, mit ihrer Kartoffelhacke, Eimern und Körben, um einen hoffentlich ertragreichen kleinen Abschnitt zu ergattern. Alles wühlte mit gebeugtem Rücken mit der Kartoffelhacke im Erdreich herum, das jeweilige Klappern in den Eimern verriet den Nachbarn, wer das große Glück hatte, auf ein Kartoffelnest gestoßen zu sein, was die Erntemaschine des Bauern nicht erfasst hatte. War das Feld nach einiger Zeit regelrecht kahl gefegt, begab man sich mit seiner Ausbeute auf den beschwerlichen Heimweg, viele mangels Schuhwerk in Holzpantinen, die Kartoffeln im Sack auf dem Rücken tragend. Eine müde, ausgehungerte und frustrierte Schar. Der täglich über mehrere Wochen zusammengetragene Kartoffelvorrat reichte zumeist höchstens bis zum nächsten Frühjahr. Waren die Vorräte aufgebraucht, begann die nächste Etappe der allgemeinen Nahrungsbeschaffung - man musste „Fechten“ gehen, eine elegantere Wortumschreibung für Betteln. Wer etwas zum Tauschen hatte, versuchte dafür bei den Bauern als Gegenwert Nahrungsmittel einzutauschen. Ein Lotzdorfer Bauer soll sogar damit geprahlt haben, dass er so viele Teppiche von den Städtern in seiner Scheune hatte, dass er die Wände ringsherum damit hätte zuhängen können. Für einen kleinen Sack Kartoffeln, ein Brot, ein Stückchen Speck, Eier oder Äpfel wechselten Teppiche, Bettwäsche, Schmuck, aber auch heute ganz unspektakuläre Sachen wie Jutesäcke oder Rollen von Bindfaden, die der Bauer für seine Arbeit brauchte, die Besitzer. Jegliche Werte einer Ware waren auf den Tausch von etwas „Fressbarem“ zum Überleben gesunken.

 

Die Not war unsagbar groß. Verstärkt wurde sie noch durch die Auflösung der Arbeitslager nach 1945, deren ehemalige Fremdarbeiter ebenfalls auf sich gestellt unterwegs waren. So klopften eines Tages bei Bauer H. in Lotzdorf fremdländisch aussehende Gestalten an, die um ein Nachtquartier und Essen baten, was sie nach dem ersten Schreck auch in den Kellerräumen erhielten, während die Frauen des Hauses aus lauter Angst weggesperrt wurden.

 

Auch heute noch ist das Einbringen der Kartoffeln einer der Höhepunkte des Erntejahres;  Kartoffel-Ausleseaktion 2015 auf dem Oese-Hof Seifersdorf - Alt und Jung muss zupacken... (Foto: Schönfuß)
Auch heute noch ist das Einbringen der Kartoffeln einer der Höhepunkte des Erntejahres; Kartoffel-Ausleseaktion 2015 auf dem Oese-Hof Seifersdorf - Alt und Jung muss zupacken... (Foto: Schönfuß)

Es waren schlimme Zeiten. Wer gar nichts zum Tauschen hatte, wie auch die vielen Flüchtlinge, war auf Barmherzigkeit angewiesen. Und das waren viele, die auch keinen eigenen Schrebergarten zum Anbau von Gemüse und Obst besaßen. Nachdem die näheren Dörfer und ihre Bauernhöfe in der Umgebung der Städte heimgesucht worden waren, um etwas zu bekommen, zogen ganze Scharen von Menschen von Dresden und Radeberg aus bis in den Raum um Bautzen. In der ersten Nachkriegszeit fuhren die Eisenbahnzüge nur noch sporadisch, bisherige Fahrpläne galten nicht mehr, da ein Gleis der bisher zweispurigen Strecke von der sowjetischen Besatzungsmacht demontiert worden war. Man musste geduldig warten, bis ein Eisenbahnzug eingesetzt wurde, aber dann begann ein regelrechter Sturm auf die Waggons, und selbst auf den Trittbrettern des übervoll besetzten Zuges standen noch Mitfahrende. Diese Zugladungen von hungrigen und unterernährten Menschen ergossen sich dann in die Dörfer um Bautzen. Abends war die Bahnhofshalle in Bautzen das Nachtquartier. Man ließ sich, so wie man war, dicht an dicht auf den Fußbodenfliesen zum erschöpften Schlafen nieder, todmüde vom Herumlaufen, zur Sicherheit den Hamstersack mit den wenigen Habseligkeiten als Kissen unter dem Kopf. Wer am Abend spät auf den Bahnhof ankam, für den war nur noch die Übernachtung in Toilettennähe möglich… Am nächsten Morgen ging man dann wieder auf Hamstertour. Viele Bauern hielten ihre Tore geschlossen, um dem täglichen Ansturm der Hungernden zu entgehen. Auch sie hatten inzwischen hohe staatliche Auflagen zur Pflichtablieferung landwirtschaftlicher Erzeugnisse zu erfüllen.

 

Dieser Zustand hielt weit bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts an. Kleinere Verbesserungen traten mit der Gründung der Staatlichen Handelsorganisation (HO) im Jahr 1948 ein. Es gab ab dieser Zeit freie Angebote an Lebensmitteln, ohne Lebensmittelmarken, jedoch konnten sich diese erhöhten Preise die Wenigsten finanziell leisten. Die Rationierung der Lebensmittel über Lebensmittelkarten hatte in der DDR bis Mai 1958 Bestand, 8 Jahre länger als in der BRD. Die Bezugskarte für Speisekartoffeln wurde erst 1966 abgeschafft, und die Kohlenkarte wurde erst Ende der 1960er Jahre in „Gutscheine zum Bezug von Braunkohlenbriketts zum staatlich gestützten Grundpreis“ umbenannt. Mehrbedarf konnte zu weit höheren HO-Preisen bezogen werden. Anfang der 1960er Jahre wurden bestimmte Lebensmittel, wie Butter und Fleisch, zeitweise erneut rationiert. Die bewusste Vorratshaltung legte die Bevölkerung eigentlich bis 1989 nicht ab, da die Versorgungslage immer wieder unsicher war und man nie wusste, was es am nächsten Tag schon nicht mehr geben könnte. Auch die Vorsorge mit Kartoffeln blieb, und jeder Ältere wird sich noch mit Schmunzeln erinnern, welche Aufregung in den Mehrfamilienhäusern herrschte, wenn die Kartoffeln angeliefert wurden. Jeder Haushalt legte im Hofgelände sein Terrain mit einigen losen Brettern fest, in die der Anlieferbetrieb die Kartoffeln aus den Säcken entleerte, dabei wurde streng darauf geachtet, dass keine zum Nachbarn kullerten. Dann begann die Hauptarbeit, das Auslesen und Sortieren der Kartoffeln. Alles kniete vor seinem Kartoffelhaufen, um angehackte und fleckige zum Sofortverbrauch und die einwandfreien zur Aufbewahrung in der Kartoffelhorde auszulesen, die dann in Eimern zum „Einkellern“ in den Keller getragen wurden. Wenn das geschafft war, wusste jeder: jetzt kann der Winter kommen, jetzt sind wir abgesichert…

 

Propaganda-Plakat aus der frühen DDR (Sammlg. O. Wittich)
Propaganda-Plakat aus der frühen DDR (Sammlg. O. Wittich)

Auch die Kartoffelferien für die Kinder wurden beibehalten. Es war ganz selbstverständlich, dass in diesen Ferienwochen auf den Feldern der Bauern, später der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG), Kartoffeleinsätze als Erntehilfe der Schüler und Studenten organisiert und durchgeführt wurden. Für die gesamten Radeberger Schulen war die 1953 gegründete LPG „Junge Garde“ Lotzdorf, die später als Kooperationsbetrieb mit umliegenden Dörfern zur „Einigkeit“ umgetauft wurde, der durchaus beliebte Anlaufpunkt für Einsätze, denn Kartoffellesen war auch mit viel Spaß verbunden Dazu kamen noch bis in die 1960er Jahre hinein Freistellungen der Schüler vom Unterricht, um an den Sammelaktionen zur Bekämpfung der Kartoffelkäfer mitzuwirken. Die Kartoffelkäfer waren angeblich vom „bösen Klassenfeind“, dem Amerikaner, über den Feldern der damaligen Ostzone bzw. der späteren DDR, abgeworfen worden, um als „Ami-Käfer“ und „biologische Waffe“ die Ernte zu vernichten und die sozialistische Landwirtschaft zu sabotieren. Ein Propagandafeldzug, denn die Käfer gab es schon seit 1877 in Europa, und bereits 1935 wurde in Deutschland durch den „Reichsnährstand“ ein Kartoffelkäfer-Abwehrdienst (KAD) gegründet und eine große Kampagne zur Bekämpfung des Käfers gestartet. Landwirtschaftliche Verluste hatten in der DDR zumeist andere Ursachen…   Auch die sozialistischen Patenbetriebe der LPG, wie der VEB Sachsenwerk Radeberg, später RAFENA / Robotron, die Exportbierbrauerei oder der Flughafen Dresden-Klotzsche, unterstützten den landwirtschaftlichen Betrieb mit freigestellten Arbeitskräften, die auch zum Kartoffellesen oder an den Sortieranlagen zum Einsatz kamen. Eine Sortiermaschine war auf der Karlstraße 3 im Einsatz, auf dem Gehöft des Bauern Richard Großmann.

 

All das ist lange her – oder auch nicht. Die Kartoffelferien haben sich längst zu Herbstferien gewandelt, die vor allem der Erholung dienen und als eine glückliche Zeit zum Reisen genutzt werden. Das täglich vorhandene gute und reichhaltige Nahrungsangebot in unserem Land hat maßgeblich dazu beigetragen, zu vergessen, dass dies nicht selbstverständlich ist.

 

Wir sollten trotzdem wachsam sein - unsere Gesellschaft ist wieder verletzlich geworden, und selbst Vorsorge zu treffen, kann durchaus eine Lebensversicherung für jeden sein. Ein Aphorismus erinnert uns daran sehr treffend:

 

 „Wer sich nicht selber wehren kann,

dem diktiert die Geschichte, was er zu tun hat“.

 

 

Renate Schönfuß Krause

www.teamwork-schoenfuss.de

 

 

Quellen:

·         Stadtarchiv Radeberg, Akte 2.3.1. 4052/4054, Bespr. Magistrat 5.Okt. 1945

·         Panorama, 27. Mai 2008, „Ende der Lebensmittelmarke“

·         Johannes Krause: Lebenserinnerungen

·         Sachsen.de: Staatsministerium d. Innern, „Die sächsischen Innenminister
    im   Überblick:  Karl Otto Uhlig“;  www.smi.sachsen.de/513.htm