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Stollenbäckerei - Strietzelbäckerei; Die Stollenweiber in Lotzdorf
Die lange Tradition der Stollenbäckerei, der Stollen als Nahrungsmittel, Tradition und frühere Bedingungen beim Stollenbacken
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Als die „Stollenweibsen“ noch die Backstuben belagerten…

Was heute etwas nach Räuberpistolen-Geschichte klingen mag, ist noch gar nicht so lange her, und manch Bäckermeister weiß davon noch zu erzählen. Auch die Bäckermeister Lotzdorfs waren, wie alle anderen, davon betroffen und wurden in der Vorweihnachtszeit und der damit verbundenen Stollenbäckerei auf eine besonders harte Probe gestellt. Es war über Jahrhunderte, bis in das Jahr 1964, von jeher Brauch gewesen, dass die sogenannten „Stollenweibsen“ vor Weihnachten in den Backstuben der Bäckermeister ihren Einzug halten durften, um sich vor Ort mit ihren eigenen, zumeist über das ganze Jahr mühsam gesammelten Zutaten, ihre Stollen fachgerecht, von dem Meister höchstpersönlich, zubereiten und abbacken zu lassen. Der Beweis für diese lange Tradition findet sich im folgenden Eintrag von 1764 in der Radeberger „Chronik Knobloch“:

 

„Den 24. December: am HeilChristAbend, es war ein Sonntag, wurde die Stadt in einen grosen Schreck, durch ein entstandenes Feuer, bey dem sogenannten Schönbornschen Becker, Mstr: Johann Gottfried Stelzer auf der Pirnaischen Gasse No:38 gesetzt. Es war Flachs auf dem Backofen zum dörren gelegt worden, der sich, da einige Tage hintereinander starck gebacken worden, entzündet hatte. Da wegen des außerordentlichen Dampfes niemand ganz zu dem Feuer in die Backstube kommen konnte, wie den einige Personen halb erstickt schon musten herausgetragen werden, so dauerte es einige Stunden, ehe es ganz gedämpfet werden konnte. Der dadurch veruhrsachte Schaden am Haus, war eben nicht allzu-beträchtlich, viele Weiber aber bejammerten ihre dabey verlohren gegangenen ChristStriezel ungemein.“

 

Diese Schilderung von mehreren halb erstickten Personen bei dem Feuer in der Backstube in Radeberg und den vielen Weibern, die ihr verloren gegangenes Gebäck bejammerten, zeigt deutlich, dass man auch damals schon beim Backen der Striezel in der Backstube anwesend war.

Eine frühere Backstube, der Backofen wurde mit Holz bzw. Kohle befeuert.     Quelle: www.kerstins-nostalgia.de
Eine frühere Backstube, der Backofen wurde mit Holz bzw. Kohle befeuert. Quelle: www.kerstins-nostalgia.de

In Lotzdorf gab es drei dem Dorf unmittelbar zugehörige Bäckereien und zwei auf sogenanntem „Radeberger Gebiet“, der Friedrichstraße linksseitig. Ein jeder Bäckermeister war damals für seine besonderen Spezialitäten berühmt. Für heutige Verhältnisse, im Zeitalter vieler Fertigprodukte, waren ihre Kreationen einmalige handwerkliche Besonderheiten. Am besten konnten das sicherlich die Kinder beurteilen, wenn sie ihr täglicher Schulweg in die Lotzdorfer Schule, heute Ludwig-Richter-Schule, an den duftenden Bäckereien vorbeiführte. Ein Leser der „Lotzdorfer Impressionen“ beschrieb mir das in einem Brief so: „Nie vergesse ich das Flair dieses unseres einzigartigen Schulwegabschnittes, diesen wunderbaren Geruch nach Brot und frischem Kuchen, der uns Kindern in die Nase fuhr, sobald wir in den Bannkreis der Bäckerei eintraten. Leider blieb es meistens nur beim Riechen, denn mein Taschengeld war damals gerade mal eine Mark pro Woche.“ Die Bäckerei Schramm auf der Lotzdorfer Straße 15 war bekannt für ihre Köstlichkeit eines einmaligen Sahnekuchens, hergestellt nach einem Geheimrezept des Bäckermeisters. Auf der Karlstraße Nr. 13 gab es die von Meister Barchmann erbaute Bäckerei, später Brendel, Röseck, Anders und zuletzt geführt vom Bäckermeister Reim, die ebenfalls ihre besonderen Kuchenrezepte hatte und deren Krönung, laut Aussage alteingesessener Lotzdorfer Einwohner, neben Eierschecke der beste je gegessene Kaiserkuchen gewesen sein soll. Die dritte Lotzdorfer Bäckerei befand sich direkt in der Lotzdorfer Mühle, auch Rasenmühle genannt, Lotzdorfer Str. 65 (Cat.-Nr. 29). 1937 gehörte die Mühle Erwin Philipp, Bäcker Hans Rätzsch wohnte dort. Diese Bäckerei war noch in den 1960-er Jahren in Betrieb und bekannt für ihren leckeren Zuckerkuchen.

Auf Radeberger Flur, auf der Friedrichsstraße, waren die Bäckereien Hupfer, später Hofmann und zuletzt Gocht in Nr. 27 vertreten und die Bäckerei Nitsche, später Caspar, in Nr. 13. Gochts waren die allererste Adresse für die Liebhaber eines ausgezeichneten Nusskuchens, während die Bäckerei Caspar vorzügliches Brot und Brötchen herstellte.

 Jedoch in allen Bäckereien war die Stollenbäckerei, in Vorbereitung der Weihnachtszeit, von jeher etwas ganz Besonderes. Wenn diese riesigen Butterstollen aus dem Ofen kamen, verbreiteten sie einen irren Duft, der die gesamte Straße entlang zog. Das Sammeln der Zutaten für einen besonders gehaltvollen Stollen beschäftigte die Hausfrauen zumeist das ganze Jahr über. Rosinen, Zitronat, Orangeat, süße und bittere Mandeln waren für viele fast unerreichbare Herrlichkeiten, die es kaum offiziell zu kaufen gab. Auch Mehl, Zucker, Butter waren viele Jahre rationiert, und die Zuteilungen auf Lebensmittelmarken reichten gerade für das tägliche Leben. Es blieb nichts übrig. Für die Stollenbäckerei als ein Extra zu Weihnachten mussten die meisten Familien das Jahr über richtig sparen. So wurde von den Frauen, die zumeist Mitglied der seit 1946 wieder zugelassenen Konsumgenossenschaft geworden waren, sehnsüchtig auf die Auszahlung der Konsum-Rückvergütung am Jahresende gewartet. Auch die Familienväter sparten für das Fest, indem sie in ihren damals üblichen Spiel- und Skatclubs die wenigen gewonnenen Spielgroschen bis zum Weihnachtsfest ansparten. Diese Auszahlungen oder „Ausschüttungen“ wurden dann für die Weihnachtsbäckerei oder den Weihnachtsbraten verwendet. Glücklich waren diejenigen, die nach der Teilung Deutschlands nach 1945 über die sogenannten Westbeziehungen verfügten und hin und wieder mit sogenannten „Westpäckchen“ von ihrer Westverwandtschaft unterstützt wurden. Man wusste im Westen über den Mangel, der hier in Ostdeutschland herrschte, und versuchte zu helfen. Spätestens zur Stollenbäckerei wurde sichtbar, wer Zugang und Beziehungen zu guten Zutaten hatte und wer nicht. Dementsprechend fiel dann die Güte der Stollen aus. Die Palette reichte von wunderbaren, schweren und mit Rosinen übersäten Butterstollen bis hin zu etwas leichterem und „stiebigen“ Gebäck, ausgestattet mit Ersatzstoffen (Kandinat) statt des Zitronats.

Für die Bäckereibetriebe war diese Zeit eine besondere Herausforderung. Die Bäckermeister, die täglich ab nachts zwei Uhr ihrer Arbeit für die Absicherung des eigenen Ladengeschäftes mit Brot, Semmeln und Kuchen nachkommen mussten, hatten nun die Aufgabe, im Anschluss daran das Stollenbacken für die in der Backstube wartenden Frauen zu übernehmen. Schon sehr früh, kurz nach 5.00 Uhr, huschten aufgeregt und mit Taschen bepackt die ersten „Stollenweibsen“ aus der Kälte in die warme Backstube. Alle wollten die ersten sein. Am Abend verließ dann jeweils der letzte Durchgang den Ort vorweihnachtlicher Erfüllung, jeweils mit der Ausbeute an frisch gebackenen, köstlich duftenden Stollen.

Diese regelrechte Invasion der Frauen erfolgte in den Wochen vor Weihnachten täglich in mehreren Durchgängen. Die Bäcker versuchten zwar, zumeist vergeblich, dem Ansturm der Frauen durch die Vergabe von Terminen zu begegnen, aber am liebsten kamen dann doch alle auf einmal. Die gemeinsamen Stunden in der durchgewärmten Backstube, in der Nähe des großen Ofens, oder wie bei der Bäckerei Reim im warmen Hausflur, waren eine willkommene Abwechslung. Zumeist saßen alle „Stollenweibsen“ in Reih und Glied auf einer bereitgestellten Bank aufgereiht und plauschten angeregt über die neuesten Begebenheiten des Dorfes. Dabei hatten sie jedoch den Bäcker und seinen Gesellen argwöhnisch im Auge. Jeder Arbeitsschritt wurde beobachtet, damit es ja zu keinen Verwechslungen bei den Zutaten kommen konnte und auch wirklich die eigenen in voller Menge in den Stollenteig kamen. Man brachte alles mit, wie die gewaschenen Rosinen, die gebrühten und geschälten Mandeln, das Orangeat und Zitronat nebst der „guten Butter“ und dem Butterschmalz - alles berechnet für die gewünschte Stückzahl der zu backenden Stollen. Nun wollte man in der Backstube selbst dabei sein, und jede Frau stand unmittelbar neben dem Bäcker, wenn er das Mehl für ihre gewünschte Anzahl der Stollen abwog, die Hefe zugab und mit geschickten Händen das eigene Teigstück vorbereitete, knetete und rhythmisch klatschend auf ein Holzbrett fallen ließ. Mit Argusaugen wurde dann beobachtet, wie er die ihm übergebenen wertvollen Backzutaten in den Teig einarbeitete und die Stollen formte. War etwas Teig übrig, wurde daraus noch eine Mohnrolle gezaubert, oder der Teig wurde, mit gekochten und gestampften Kartoffeln vermengt, zu einem vorweihnachtlichen Kartoffelkuchen verarbeitet. Erst wenn alle Stollen fertig waren, erfolgte durch die Frauen die abschließende Kennzeichnung ihres Eigentums mit Stollenmarken, zumeist aus Aluminium mit Initialen versehen. Sie wurden vor dem Backen in den weichen Teig gesteckt. Die aufregende Prozedur fand ihren Abschluss, wenn der Bäckermeister die Stollen in den Backofen schob und sie goldgelb gebacken wieder hervorzauberte.

„Stollenweibsen“ tragen ihre Stollen nach Hause.   Quelle: www.lvz.de
„Stollenweibsen“ tragen ihre Stollen nach Hause. Quelle: www.lvz.de

Die fertigen Stollen wurden dann am späten Nachmittag, ganz vorsichtig auf großen Kuchenbrettern von der Familie nach Hause getragen, oder in Wäschekörben verpackt, auf einem Handwagen oder Schlitten transportiert. Ein Fest für die ganze Familie. In den Lotzdorfer Bauerngütern wurden sie zumeist in den entsprechenden Vorratskammern aufbewahrt. Hier kam so schnell keine Maus an die duftenden Backwaren. Für die übrigen Einwohner wurde die Sicherung schwieriger. Oft dienten die mit einem Deckel versehenen Waschzuber aus Holz, die im Keller gelagert wurden, als Aufbewahrungsort. Oder die Stollen wurden in Koffer verpackt und auf den Schlafzimmerschränken kühl gelagert. Eine Tradition stellte auch der erste Anschnitt des Stollens dar. Vor Weihnachten wurde zumeist kein Stollen gegessen. Erst am Heiligabend war dann der große Augenblick, und es gab den ersten, lang ersehnten und frisch gebutterten, mit Staubzucker gepuderten Stollen als Höhepunkt. Ein Ritual, denn ein Weihnachtsfest ohne Stollen wäre einfach nicht denkbar gewesen.

 

Man darf sicherlich heute, in unserer Überfluss-und Wohlstandsgesellschaft nicht vergessen, dass es sich damals bei der Stollenbäckerei nicht nur um ein reines Genussmittel handelte. Das Backen von Weihnachtsstollen stellte über Jahrhunderte eine ganz wichtige Ernährungsgrundlage für die nächsten Wintermonate dar. Schon die Anzahl der Stollen, die sich jede Familie als eine Art der Vorratswirtschaft einlagerte, zeigt das deutlich. Die Frauen rechneten früher anders, denn für das Stollenbacken gab es ein besonderes Maß, es wurde in „Metzen“ gerechnet: 1 Metze waren 8 Pfund Mehl. Da immer „halb und halb“ an Mehl und Zutaten gebacken wurde, erbrachte 1 Metze 4 Stollen zu je 4 Pfund. 1 Metze war zumeist die geringste Menge, die gebacken wurde, im Schnitt waren es 2 oder sogar 3 Metzen. Der Vorrat reichte zumeist bis Ostern.

 

Für die Bäcker war diese Zeit ein regelrechter Belagerungszustand, denn ganze Scharen von Frauen suchten ihre Backstuben heim. Wenn am Abend die letzten gegangen waren, musste die Backstube gesäubert und für den nächsten Tag wieder vorbereitet werden. Den ebenfalls mitarbeitenden Bäckersfrauen oblag dann mehrmals am Tag die Fußbodenreinigung, denn da es früher noch richtig kalte Winter mit viel Schnee gab, wurden die Fußwege gegen die Rutschgefahr oft mit Asche gestreut. Dieser an den Schuhsohlen haftende Asche-Schnee-Matsch wurde von den vielen Füßen in die Backstuben getragen und hinterließ seine schmutzig grau-braunen Spuren.

Als im Jahr 1964/65 im Raum Radeberg eine epidemische Hepatitis ausbrach, die bis Weihnachten 1964 um die 800 Krankenhauseinweisungen zur Folge hatte und sogar Notunterkünfte, zur Isolation der Kranken, in dem damaligen Kulturhaus „Maxim Gorki“ erforderlich machte, wurden verstärkte Hygienebestimmungen eingeführt. Eine davon untersagte zukünftig das Betreten der Bäckereien durch Unbefugte.

 

Damit waren die Zeiten endgültig vorbei, in denen die „Stollenweibsen“ die Backstuben belagerten…

 

 

Allen Lesern ein besinnliches Weihnachtsfest wünscht

 

 Renate Schönfuß-Krause

 

 Quellen:

  • Knobloch-Chronik Teil 1, Seite 356
  • Walter Fischer: Meine Zeit als Bäckerlehrling 1938-1941
  • Erinnerungen: M. Horn, K. Bräuer, Bäckermeister Reim
  • Ministerium d. Innern der DDR: Hygiene und Gesundheitsschutz 1964-1966, Hepatitisvorfälle Raum Radeberg 1965, DO 1/40096 1965

 

Dezember 2016