Veröffentlicht im Rahmen
"800 Jahre Ersterwähnung Radeberg"
in der neuen Rubrik "800 Jahre Radeberg - Geburtstags-Geschenke" in der Heimatzeitung "die Radeberger"
Nr. 50 v. 13.12.2019
Zum Abschluss der Serie „800 Jahre Radeberg“ des Jahres 2019 soll auch, oder muss einfach noch, neben den Ehrungen der vielen bedeutenden männlichen Persönlichkeiten Radebergs eine ebenbürtige Radebergerin vorgestellt und mit ihrem Werk vor dem Vergessen bewahrt werden: Charlotte Rinkefeil, geb. Kirchner (* 29.7.1902, † 27.10.1996).
Sie hat ebenfalls unersetzlich Wertvolles für die Stadt Radeberg geschaffen, das für die Geschichte unserer Stadt von großer Bedeutung ist: „Die Chronik des Gesundheitswesens der Stadt Radeberg“. In unserer Radeberger Stadtbibliothek sind diese fünf umfangreichen Bände zu finden, in denen sie einen Einblick in die früheste Geschichte der Krankenversorgung Radebergs bis zum Jahre 1945 gewährt, ebenso in die Entwicklung des Apothekenwesens, der Badereien, die Übersicht der Ärztegenerationen mit interessanten Kurzbiografien und Fotomaterial und das Bäderwesen im Rödertal – eine Gesamtchronik nicht nur von großem Fleiß, sondern auch unschätzbarem Wert. Dass gerade Charlotte Rinkefeil-Kirchner sich dieser Thematik ihrer/ unserer Stadt Radeberg zuwandte, steht mit ihrer Herkunft in Zusammenhang.
Sie wurde am 29. Juli 1902 in Radeberg geboren und war die älteste Tochter des Praktischen Arztes Dr. med. Paul Kirchner (* 22.5.1870, † 7.8.1961) und seiner Ehefrau, Johanna Franziska Clementine geb. Röthig († 1929). Ihr Vater war der hochangesehene Praktische Arzt und „Chirurgische Praktiker mit operativer Ausbildung“, der von 1897-1957, also insgesamt 60 Jahre, in Radeberg zum Wohle der Radeberger Bevölkerung als niedergelassener Arzt, Schularzt, Impfarzt und Mütterberatungsarzt tätig war. Zusätzlich wirkte er noch bis 1923 als Arzt im Krankenhaus, Abteilung Innere Medizin. Für sein unermüdliches Wirken wurde ihm 1954 der Ehrentitel „Verdienter Arzt des Volkes“ verliehen, und das Krankenhaus Radeberg erhielt 1981 als Ehrung seinen Namen „Paul Kirchner“ zuerkannt.
Da die eigene Arztpraxis des Vaters mit dem Wohnbereich der Familie in der I. Etage des Radeberger Wohnhauses Röderstraße Nr. 5 lag, einer Etagenwohnung, erlebte Charlotte bereits als Kind in ihrem unmittelbaren Umfeld die Härte des Arztberufes, die erforderliche und selbstverständliche Einsatzbereitschaft der praktischen Ärzte bei Tag und Nacht für Kranke und Verunglückte, und es verwundert deshalb nicht, dass sie später die umfangreiche Chronik über das Radeberger Gesundheitswesen erarbeitet hat. In Radeberg, mit seinen vielen kleineren und größeren Industriebetrieben, ereigneten sich ständig viele Unfälle, die Anfang der 1920er / 1930er Jahre noch oft von den praktischen Ärzten behandelt und auch langwierig nachbehandelt werden mussten. Es war deshalb nicht unüblich, dass dann außer im ständig vollbesetzten Patientenzimmer auch Kranke im Flur der Praxis oder sogar in der Küche saßen, wo Vor- und Nachbehandlungen, vom Seifenbad bis zum Gipsverband, durchgeführt werden mussten. Auch die Ehefrauen der Ärzte waren voll in den Praxisalltag mit einbezogen und zumeist für die Herstellung von Röntgenaufnahmen u.a. zuständig. Erlebnisse, die die spätere Historikerin und Autorin in ihrer Chronik des Radeberger Gesundheitswesens verarbeitete und festhielt und auch durch tiefgründige Recherchen vertiefte.
Charlotte Kirchners Entwicklung entsprach ihrem Status einer Arzt-Tochter - ihr wurde die selbstverständliche „Bildung einer höheren Tochter“ zuteil. Sie besuchte ab 1909 die Volksschule in Radeberg. Für ihre weitere höhere Schulbildung musste sie jedoch auf die Städtische höhere Mädchenschule Dresden-Neustadt wechseln und das Realgymnasium für Mädchen zu Dresden-Neustadt besuchen, wo sie 1921 ihr Abitur ablegte. Diese höhere Schulbildung für Mädchen war damals in Radeberg noch nicht möglich, denn die 1912 neu erbaute Realschule mit Progymnasium auf dem Freudenberg, nur wenige Meter oberhalb der Wohnung von Dr. Kirchner gelegen, war zu dieser Zeit nur für Knaben zugelassen…
Charlotte Kirchner gehörte zu jener Generation junger Mädchen und Frauen des beginnenden 20. Jahrhunderts, die neben Intelligenz durchaus auch das Glück und die Unterstützung eines wohlsituierten Elternhauses besaßen. Mit diesen Voraussetzungen konnten diese jungen Mädchen erstmalig die neuen Bildungsmöglichkeiten für Frauen wahrnehmen, die sich damals ab 1919 mit der Frauenbewegung und dem Frauenwahlrecht eröffneten. Entgegen dem Widerstand maskuliner Kreise waren in Folge der Frauenbewegung Forderungen für Weiterbildung und Studium von Frauen nicht mehr aufzuhalten, 1921 erhielten sie auch das Recht des Zugangs zu Habilitationen. Die Universitäten Freiburg und Heidelberg waren Vorreiter für die Öffnung und Zulassungsmöglichkeit von Frauen zum Studium, und so verwundert es nicht, dass Charlotte Kirchner diese Möglichkeit von 1922-1927 wahrnahm und zuerst an der Universität Freiburg, später an der Universität München 10 Semester Slawistik belegte. Der Erhalt eines Staatsexamens blieb ihr jedoch versagt, da es damals für diese noch sehr ungewöhnliche Studienrichtung der slawischen Sprachen keinen Examensabschluss, wie in späterer Form nach Ende des Zweiten Weltkrieges, gab.
Am 9. Juli 1928 ging sie die Ehe mit dem 16 Jahre älteren und in Dresden gebürtigen, hochgebildeten Altphilologen Dr. Walter Rinkefeil (* 13. Juli 1886, † 27. März 1986) ein, der sich vor allem den Studien des Mittelalters zugewandt hatte. Rinkefeil hatte an den Universitäten Leipzig und Greifswald klassische und deutsche Philologie studiert, 1913 sein Staatsexamen abgelegt und war ab dieser Zeit Studienassessor am Carola-Gymnasium Leipzig, anschließend an den Staatsgymnasien Plauen/ V. und Dresden-Neustadt gewesen. 1917 promovierte er mit einer in Latein verfassten Dissertation. Später war er Oberlehrer am Sächsischen Kadettenkorps zu Dresden und bis 1945 Studienrat an der Landesschule Dresden und deren Folgeanstalten. In dieser Zeit war die Philologin Charlotte Rinkefeil-Kirchner in die Lehrtätigkeit einbezogen.
Die Stadt Dresden wurde für das Ehepaar Rinkefeil-Kirchner, bis zum Terrorangriff auf Dresden am 13. Februar 1945, zum Arbeits- und Lebensmittelpunkt. In diesem Inferno der Bombenangriffe auf die Stadt verloren sie alles und flüchteten nach Radeberg, wo sie bei dem Vater Charlottes, Dr. Paul Kirchner, Unterkunft fanden. Da Dr. Kirchner in dieser Zeit verstärkt zur Notversorgung im Lazarettdienst eingesetzt wurde, ebenso ab Kriegsende Mai 1945 für die Betreuung der sowjetischen Stadtkommandantur, begleitete ihn seine Tochter als Dolmetscherin und stand ihm mit ihren nun äußerst nützlichen Sprachkenntnissen hilfreich zur Seite.
Ihrer Bewerbung als Lehrerin an die Oberschule Radeberg auf dem Freudenberg folgte ihr Dienstantritt am 27. August 1945, „da nicht vorbelastet“. Sie hatte den kürzesten Arbeitsweg, lag doch die Oberschule, erreichbar von der Röderstraße aus über die langgezogene attraktive Treppenanlage, nur wenige Meter oberhalb ihrer Wohnung auf dem Freudenberg. Da sie als Lehrerin bei ihren Schülern sehr beliebt war, war es nicht unüblich, dass ihre Schüler auch oft die schwer gefüllte Aktentasche „auf den Berg“ trugen. Im Jahr 1946 wurde die Oberschule in Humboldtschule umbenannt. Da Russisch als Pflichtfach eingeführt wurde, vervollständigte Charlotte Rinkefeil-Kirchner ihr Wissen nochmals und belegte, während eines Studienurlaubs, im Jahr 1948 einen Dolmetscher-Sprachkurs an der Universität Leipzig. Im Jahr 1951 legte sie an dem im gleichen Jahr neu gegründeten Pädagogischen Institut in Potsdam ihr Fachlehrer-Examen für Russischlehrer der Oberstufe ab. Ihre damaligen Schüler, heute selbst bereits in einem stattlichen Alter, erinnern sich bei ihr ohne Ausnahme an eine Lehrerin, die es verstanden hatte, einen lebendigen und vielseitigen Unterricht der russischen Sprache zu gestalten und sie für viele Themen der russischen Literatur und Musik zu begeistern – zu dieser Zeit durchaus ein kleines Kunststück, denn Russisch als Unterrichtsfach war in der sogenannten „Russenzone“ zumeist nicht unbedingt beliebt.
Im Jahr 1961 schied sie als Lehrerin aus dem Schuldienst aus und begann, ebenfalls wie ihr Mann, sich der schriftstellerischen Arbeit zuzuwenden.
Während sie sich den Themen des Radeberger Gesundheitswesens und der damit verbundenen Stadtgeschichte widmete, bestand das Arbeitsgebiet ihres Mannes vor allem in Publikationen über Forschungen von Grimma, Trebsen und Nerchau sowie über genealogische Forschungen zu der Familiengeschichte Rinkefeil.
Als ihr Mann, Dr. Walter Rinkefeil am 27. März 1986, nur wenige Wochen vor seinem 100. Geburtstag verstarb, hatte er sogar noch im Krankenhaus bis zuletzt mit dem Diktiergerät weitergearbeitet. Ihr oblag nun die Aufgabe, seinen umfangreichen Nachlass mühevoll zu ordnen und in mehreren Etappen seine Manuskripte an das Staatsarchiv Leipzig als Provenienz, in Form eines Geschenkes, zu übersenden.
Die Philologin Charlotte Rinkefeil-Kirchner verstarb im Alter von 94 Jahren am 27. Okt. 1996 in Radeberg.
Es wäre durchaus nachdenkens- und wünschenswert, ihr bedeutendes Werk als Digitalisat für die Nachwelt zu erhalten – für sie sicherlich die schönste Ehrung und auch ein bleibendes Geschenk für die Stadt Radeberg.
©Renate Schönfuß-Krause
Dezember 2019
Quellen, Bildnachweise:
Mein besonderer Dank für die Unterstützung mit Informationen gilt:
Frau Schurz / Radeberg, Frau Mütze / Stadtbibliothek Radeberg, Frau Engler / Stadtarchiv, Frau Dr. Zschätzsch / Erfurt, Herrn Loitsch / Humboldt-Gymnasium Radeberg.
Alle Bilder ohne spezielle Urheber-Angabe sind eigene Aufnahmen oder aus dem eigenem Archiv teamwork-schoenfuss.
Schrb. vom 17. Dezember 2019 von Herrn Jochen Hentschel, Langebrück, der von 1954-1958 Schüler bei Frau Rinkefeil-Kirchner war