einer trage des anderen last

oder:                   Was wir von Tieren lernen können -

                       eine fast unglaubliche Geschichte

Wir sind auch im Jahr 2015 wieder in den Alpen und genießen die Landschaft, die sich um unsere Almhütte ausbreitet: die Bergketten mit Watzmann, Göll und Kehlstein, die Bergwiesen und die Einblicke in die Weiten der Talkessel mit ihren spielzeughaft anmutenden Ansammlungen menschlicher Behausungen, das ferne Gebimmel der Kuhglocken und das Prusten und Wiehern der Pferde auf der Koppel vor der Hütte. Hier scheint die Welt noch heil zu sein. Es ist einer unserer Lieblingsorte, um ganz entspannt in der „Natur pur“ Urlaub machen zu können. Wenn möglich, fern der Zivilisation, sehr fern sogar. Darauf legen wir Wert...

 

Der Tag im Juni 2015 ist so, wie wir ihn im Gebirge ebenfalls lieben, feucht und etwas nebelverhangen. Gemütlich. Wir lieben Nebel, diese wattierte Einsamkeit, die alles um uns her so unüberschaubar und geheimnisvoll werden lässt. Im Kamin in der Hütte knispern anheimelnd die Holzscheite, durch die geöffnete Tür sehen wir unsere Boxerhündin Ronja mit selig verdrehten Augen vor dem Wärmespender liegen. Im Schlaf macht sie Laufbewegungen, wahrscheinlich träumt sie von irgendwelchen Hundefreuden. Wir wollen es uns gerade auf der Terrasse mit Rotwein und einem Buch gemütlich machen, als wir plötzlich in einiger Entfernung am Fuß des Wassertroges eine fast unmerkliche Bewegung wahrnehmen. Wie sich bei näherer Besichtigung herausstellt: ein Feuersalamander. Für uns als Stadtbewohner ein Erlebnis, denn obwohl wir schon mehrmals an diesem Ort unseren Urlaub verbracht hatten, war uns noch nie solch ein interessantes Tier begegnet. Auch ihm gefiel offensichtlich, genau wie uns, dieser durchfeuchtete Tag, und er war in Ausflugs-Stimmung. Als wir uns ihm näherten, blieb er sofort wie erstarrt stehen, nur sein Schwanz peitschte aufgeregt hin und her. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er sich gefährdet oder unbehaglich fühlte. Aber schon nach kurzer Zeit des Innehaltens schien er zu bemerken, dass unsere Nähe keine Gefahr bedeutet. Zielstrebig und unbeirrt setzte er seinen Weg wieder fort – von dem unter der Dachtraufe stehenden Wasserfass in Richtung unserer Terrasse. Wir waren gespannt, denn wir nahmen an, dass er hier irgendwo seinen Höhleneingang haben könnte. Geradlinig steuerte der Feuersalamander auf den Stützpfosten des Daches zu, und plötzlich sahen wir an dem Holzpfosten, ganz unten, etwas weißes, perlmuttartiges, vom ersten Hinsehen einer größeren Muschelschale ähnlich. Wie kam sie hierher? Wir waren starr vor Erstaunen, als wir bemerkten, wie der Feuersalamander von Anfang an, über einige Meter, ganz zielgerichtet diese Stelle anvisiert haben musste und darauf zuging. Sie war sein Ziel. Er drängte sich regelrecht mit seinem Körper an die „Muschelschale“, in die auf einmal Leben kam. Ganz langsam drehte sich die „Muschel“ und verwandelte sich in ein großes perlmuttfarbiges Schneckenhaus.

 

Es dauerte nicht lange, und aus dem Gehäuse schob sich bedächtig eine Schnecke heraus und entfaltete ihre ganze Schönheit und Pracht - eine große Weinbergschnecke. Wollte der Salamander sie womöglich fressen, durchfuhr es uns als ersten Gedanken? Mitnichten! Wie waren wir erstaunt, als wir nun das Weitere beobachten konnten. Vor lauter Staunen und Aufregung vergaßen wir leider, an unseren Fotoapparaten die Hebel für die Filmeinstellung zu drücken, um so das Geschehen als Film festhalten zu können. Nun dokumentieren nur Fotos alles Weitere. Denn, wir sind überzeugt davon, vor unseren Augen spielte sich ein kleines Wunder ab, das durchaus in die Rubrik des Shakespeare-Sprichwortes passt „Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, (...), von denen sich eure Schulweisheit nichts träumen lässt“.

 

Der Feuersalamander blieb also ganz ruhig stehen, dicht an die Schnecke gepresst. Auch sein Schwanzende zeigte keinerlei Reaktionen einer Aufregung. Und plötzlich, wir trauten unseren Augen kaum, sahen wir, wie die Weinbergschnecke den Außenlappen ihres Schneckenkörpers ganz langsam, in einem richtiggehenden „Schneckentempo“, seitlich auf den Rücken des Salamanders schob und somit nach und nach auf seinen Rücken glitt – so wie ein Reiter sein Pferd besteigt. Als sie „aufgesessen“ war, setzte sich der Salamander mit seiner Last in Bewegung. Wiederum zielgerichtet steuerte er über die Wegeplatten der Terrasse und den Schotter des Vorplatzes in Richtung des Wassertroges. Durch die dort herrschende Feuchtigkeit hatten sich an einer Stelle einige magere Grashälmchen durch den Schotterbelag hindurch geschoben. Das einzige Grün auf dem Platz. Und genau dahin ging die Reise der Beiden, wie wir mit Erstaunen feststellen konnten. Unterwegs kippte der Salamander mit seiner Last auf dem Rücken mehrmals um, aber nach einigen Strampelversuchen kam er trotzt der ungünstigen Lastenverteilung, durch die mit ihrem Gehäuse hoch auf ihm sitzende Weinbergschnecke, wieder auf seine Beine. Nichts und Niemand konnten die beiden ungleichen Tiere anscheinend aufhalten.

 

Als er sein Ziel, die ersten grünen Hälmchen an dem Wassertrog, mit seiner Bürde auf dem Rücken erreicht hatte, blieb er stehen. Mit dem linken Hinterbein stupste er mühsam mehrmals nach oben an den auf ihm sitzenden Schnecken-Körper. Dabei musste er noch ständig Balance halten, um mit seinen nun nur noch drei Standbeinen nicht wieder umzukippen. Und wieder war es wie ein Wunder, denn sie schien das zu verstehen und begann, ganz bedächtig ihren Körper von seinem Rücken abwärts zu schieben, wieder abzusteigen. Das einzige frische Grün weit und breit war vorerst ihr Endziel. Wir konnten es nicht sehen, aber sicherlich „äste“ sie daran. Nach vollbrachtem Werk ging wieder jeder seine eigenen Wege. Der Feuersalamander strebte der nächsten Stützmauer zu, und wir konnten ihn noch eine ganze Weile beobachten, wie er immer wieder zwischen Ritzen und kleinen Höhlen, die wir vorher noch nie wahrgenommen hatten, geschäftig auftauchte und verschwand. Die Weinbergschnecke tummelte sich noch eine Zeit in den Grashalmen, wo sie der Salamander abgesetzt hatte, bis sie sich wiederum in Richtung der Terrasse aufmachte, um an dem Holz des Tischbeines einem unbekannten Ziel aufwärts zuzustreben. Trotzt intensiver Suche haben wir die beiden Tiere bis zu unserem Urlaubsende nicht wiedergesehen.

 

Wir blieben zurück. Mit uns eine gehörige Portion Aufregung über das Erlebte und viele Fragen, denn dieses Tragen der Schnecke auf dem Rücken des Feuersalamanders sah nicht nach irgendeinem Zufall aus. Hat sich hier, bei diesen zwei so unterschiedlichen Tieren, eine Symbiose herausgebildet? Beide schienen sich zu kennen, und es sah nicht so aus, als wenn dieses Prozedere das erste Mal so abgelaufen wäre. Der Salamander begab sich, wie schon gesagt, zielgenau in gerader Linie in die Richtung der Schnecke. Die Entfernung zwischen beiden betrug mehrere Meter, er konnte sie von weitem kaum gesehen haben. Gab es eine Verständigungsmöglichkeit? Auch ihr Aufsteigen auf ihn als „Transportmittel“ wirkte bei beiden Tieren vollkommen unaufgeregt und eingespielt, ebenso wie die Zeremonie des Absteigens. Er suchte regelrecht ihre Nähe - vielleicht befreit sie ihn mit ihrem Schleim beim Aufsteigen auf den Rücken von Parasiten? Auch das wiederum gezielte Tragen der Schnecke durch den Salamander zu dem einzigen grünen Fleckchen auf dem Vorplatz der Almhütte kann fast kein Zufall gewesen sein, auch nicht, dass er sie genau dort zum Absetzen regelrecht aufforderte. Diese Beobachtung gibt viele Rätsel auf, und wir mussten sofort, im übertragenen Sinn natürlich, an das Bibelwort denken:

 

Einer trage des anderen Last.

 

Haben uns hier zwei Lebewesen, die unterschiedlicher nicht sein können, eine kleine Lektion erteilt? Zumindest haben sie zum Nachdenken angeregt. Vielleicht über unsere eigene, oftmals mangelnde Bereitschaft, Andersartiges zu akzeptieren, in unsere Nähe zu lassen, zu helfen, friedlich miteinander und nebeneinander leben zu können? Auch etwas zu tun, was für uns zwar beschwerlich ist, dem Anderen jedoch wohl tun könnte?

 

Eben:     Einer trage des anderen Last.

 

Was ein Feuersalamander und eine Weinbergschnecke können, sollte uns allen, als vernunftbegabten Menschen, nicht allzu schwer fallen.  

 

Renate & Klaus Schönfuß 

 

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