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Das Auffinden einer alten Ansichtskarte von 1909 - was uns alte Fotos erzählen können...
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Veröffentlicht in "die Radeberger"  Nr. 49 vom 9. Dezember 2016                         


Gruß aus Lotzdorf  -  oder:                      Wir sind Lotzdorf !

Was uns eine alte Ansichtskarte von 1909 erzählen kann...

Lotzdorf, Badstraße 55.  Aufnahme von Robert Hennig Radeberg von 1909
Lotzdorf, Badstraße 55. Aufnahme von Robert Hennig Radeberg von 1909

Was für eine Freude und auch Überraschung das Auffinden einer über mehr als einhundert Jahre alten Ansichtskarte aus dem Jahr 1909 auslösen kann, durfte ich kürzlich erleben. Ein Ehepaar aus Radeberg hatte diese von der Zeit etwas vergilbte Ansichtskarte zwischen den Familienfotos der ehemaligen Vorfahren aus Lotzdorf wiederentdeckt und überließ sie mir, freundlicherweise, als sogenannte „Lotzdorf-Historikerin“. Eine Freude und ein kleiner Schatz für jeden Heimatforscher. Nachdem dieses heute mit Sicherheit seltene Exemplar eingescannt und vergrößert worden war, konnte die Entdeckungsreise in die Vergangenheit beginnen.

Das Ehepaar entdeckte nun auf der Vergrößerung die ehemaligen Vorfahren der eigenen Familie wieder, und es wurde dadurch auch verständlich, warum diese Ansichtskarte über einhundert Jahre sorgsam von einer Generation an die nächste weitergereicht wurde. Welch Überraschung, den Großvater  wiederzuentdecken, den eigenen Vater und dessen Schwester, und noch zusätzlich einige Familienmitglieder im Kindesalter. Die Familie Künzel, die auf dieser Ansichtskarte neben anderen Mitbewohnern zu sehen ist, wohnte damals in dem um 1896 erbauten Haus in Lotzdorf, Badstraße Nr. 55, das linksseitig kurz vor der Einmündung Karlstraße steht. Wir wissen damit, sie wohnten auf dem Flurstück 512a von „Lotzdorfs scharfem Zacken“ (s. Artikel „Scharfer Zacken und Napoleon“).

 

„Gruss aus Lotzdorf“ verkünden die Bewohner des Hauses Badstraße 55 voller Stolz auf der Ansichtskarte von 1909
„Gruss aus Lotzdorf“ verkünden die Bewohner des Hauses Badstraße 55 voller Stolz auf der Ansichtskarte von 1909

Dem historisch Interessierten eröffnen sich mit dieser Ansichtskarte natürlich ganze Welten. Welch ein Selbstbewusstsein dokumentieren alleine schon die in Reih und Glied aufgestellten Bewohner des Hauses mit ihrem originellen, handgeschriebenen Schild am Straßenrand „Gruss aus Lotzdorf“. Es könnte auch durchaus heißen: „Seht alle her, wir sind Lotzdorf“. Sie sind offensichtlich stolz, hier in diesem schönen Haus mit städtischem Charakter, auf der linken Seite der Badstraße, zu wohnen und damit „echte Lotzdorfer“ zu sein. Sie wussten also über die Kuriosität Bescheid, dass die gegenüberliegende Straßenseite Radeberger Flur war. Es war ihnen augenscheinlich wichtig, das auch herauszustellen. Alle hatten sich richtig fein herausgeputzt und in Positur gestellt, denn der Photograph Robert Hennig, Inhaber des „Photographischen Ateliers Lindenhof“, war von dem Hauseigentümer extra bestellt worden, um ein Foto seines Hauses mit den Bewohnern als Ansichtskarte herzustellen. Offensichtlich wollte man dem restlichen Teil der Welt sein Glück zeigen. Die Eltern Künzel sendeten nur wenig später diese Ansichtskarte an ihren Sohn Walter nach Bad Nauheim, mit der stolzen Botschaft: „Lieber Walter, hier kannst Du mal Deine Heimat sehen“.

Fotograf Robert Hennig Radeberg hatte seine Foto-Karten umfassend gekennzeichnet
Fotograf Robert Hennig Radeberg hatte seine Foto-Karten umfassend gekennzeichnet

Als das Foto entstand, erschien der Fotograf Hennig mit seiner großen Plattenkamera, einem großen, schweren Stativ und natürlich mit den entsprechenden beschichteten Fotoplatten vor Ort. Er war zu seiner Zeit ein gefragter Fotograf in Radeberg, der viele seiner Motive als Ansichtskarten umsetzte, mit dem Vermerk auf der Rückseite der Karte: „Diese Platte bleibt für Nachbestellungen aufbewahrt“. Hennig hatte neben seinem Fotoatelier jedoch noch ein weiteres berufliches Standbein als Fabrikarbeiter. Zwei Berufe auszuüben war damals nichts Ungewöhnliches. Wenn ein „Photograph“ kam, empfand das ein jeder als ein richtig großes Ereignis, denn die Fotografie war noch etwas ganz Besonderes. Die Erfindung im Jahr 1839 wird maßgeblich dem Franzosen Daguerre (1787-1851) zugeordnet. Obwohl sich die technische Entwicklung der Geräte in den folgenden Jahrzehnten ständig verbesserte, war Fotografieren um 1910 immer noch etwas Extravagantes. Die Belichtungszeiten für die Fotoplatten waren lang, deshalb spürt man heute beim Betrachten alter Fotos regelrecht die Anspannung der Abgelichteten, die sich bemühten, ja ganz still zu stehen und nichts zu verwackeln. Alle blickten ernst und unbeweglich, wenn der Photograph unter seinem schwarzen Tuch hinter seiner Kamera verschwand – ja nicht mucksen, damit die Aufnahme auch gelingen möge… Die Besonderheit der Situation ersieht man auch an dem Handwerker links im Foto, der auf einer Stange sein Produkt in Richtung der Kamera hält, um es ebenfalls für die Nachwelt festzuhalten. Er hatte sein Domizil in der kleinen Werkstatt des Hinterhauses. In den darauffolgenden Jahren wechselten die Gewerke oft in diesen Räumlichkeiten. So ist ein Hutmacher überliefert, nach ihm ein Bürstenmacher. Der ist besonders in Erinnerung geblieben, da er eine Verkaufsofferte in Form eines selbstverfassten Schildes an den Zaun zum Fußweg angebracht haben soll, auf dem zur ungewollten Erheiterung der Vorbeigehenden zu lesen war: „Wer Bürsten möchte, meine Frau ist im Waschhaus“. Auch die Werkstatt eines Schneiders war in den Räumen, die Meister Gasenzer betrieb, der vielen noch in Erinnerung sein dürfte.

Barfuß, aber mit Mütze...  wirtschaftliche Not wird sichtbar
Barfuß, aber mit Mütze... wirtschaftliche Not wird sichtbar

Originell sind auf der Ansichtskarte auch die drei Jungen ganz links im Bild. Sie gehören offensichtlich nicht dazu, sie halten Abstand zu der Hausgruppe, drängeln sich jedoch vorsichtig mit in das Fotomotiv. Sie möchten zu gern mit fotografiert werden. Und was für diese Zeit interessant ist, alle drei haben zwar Mützen auf dem Kopf, verfügen aber nicht über Schuhe an den Füßen. Schuhe waren ein absoluter Luxus. Aus wirtschaftlichen Gründen mussten die Familien sparen, selbst den Schuster, und die Kinder gingen zumeist barfuß. Im Gegensatz dazu haben alle Kinder des Hauses, sicherlich für das Fotoshooting, Schuhe und feine weiße Strümpfe anbekommen...

 

Auf der Ansichtskarte ist noch der Umstand beachtenswert, dass 1909 der Straßenbelag und der Gehweg nicht befestigt waren. An der relativ hohen und verunkrauteten Straßenkante ist noch ein Kilometerstein zu sehen. Die Gemeinde Lotzdorf begann ca. 1890 auf ihrer Gemarkungsseite der Badstraße, im Zuge der Industriealisierung, mit der Wohnbebauung. Auch die Karlstraße wurde in diese Planungen mit einbezogen. Durch kluges Vorausdenken der Gemeindevorsteher Lotzdorfs wurde das Areal nicht mehr im dörflichen Charakter, sondern entsprechend der Erfordernisse der Zeit mit Mehrfamilienhäusern bebaut. Damit wurde Lotzdorf, für die stetig wachsende Zahl von Arbeitskräften der sich entwickelnden Radeberger Industriebetriebe, zu einer beliebten Adresse, wo sich wohnungssuchende Arbeiter mit ihren Familien einmieten konnten.

Badstraße mit „Gruß aus Lotzdorf“; Ansichtskarte von 1901 (Ausschnitt);  das zweite Haus v. li. Ist das beschriebene Haus Nr. 55;  Beschriftung "Straße/Nr." ist im Bild eingefügt
Badstraße mit „Gruß aus Lotzdorf“; Ansichtskarte von 1901 (Ausschnitt); das zweite Haus v. li. Ist das beschriebene Haus Nr. 55; Beschriftung "Straße/Nr." ist im Bild eingefügt

Eine weitere Ansichtskarten-Rarität „Gruss aus Lotzdorf“ von 1901 verdeutlicht die moderne Bebauung dieses Teilabschnittes der „Lotzdorfer Badstraße“ anschaulich. Ersichtlich ist, dass zu dieser Zeit bereits die gesamte hintere Lotzdorfer Seite der Badstraße mit den heute noch identischen Häusern (Nr. 53 – 65) bebaut war, während die gegenüberliegende Radeberger Seite völlig unberührt nur aus Ackerland bestand.

 

Quellen:

  • Erinnerungen Familie Gräfe, Radeberg
  • Historische Adressbücher, Radeberg 1914

 

Renate Schönfuß-Krause

www.teamwork-schoenfuss.de

 

Dezember 2016